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Jeder ein Künstler

15.05.08

Die Zeit

Die Möglichkeit, jedes Bild, jedes undefinierte Ding online als Kunst anzubieten, verändert den professionellen Kunstbetrieb

Im Netz finden wir alles, also auch Kunst. Das Angebot überwältigt. Allein Saatchi Online zeigt Gemälde und Videos in einer derartigen Masse, dass eine Woche kaum genügen würde, um sich nur grob zu orientieren. Dazu kommen all jene Künstler, die ihre Werke auf Seiten wie Flickr oder YouTube zeigen oder in Facebook-Communitys verteilen. Auch Kunstkritik findet sich zusehends im Netz, sei es in diversen Blogs oder bei Art-Ba-Ba in China, wo Printmedien in Sachen Kunst kaum etwas zu sagen haben. Wandert also die Kunst, wie so vieles vor ihr, ins Netz ab? Oder anders gefragt: Entsteht im Internet ein neues Umfeld für eine neue Kunst?

Reproduktion, Bedeutung und Beteiligung sind die Stichworte, unter denen sich die wichtigsten Veränderungen der letzten Jahre digitaler Kultur zusammenfassen lassen.

Das alte Urheberrecht, das sich an reproduzierbare Dinge klammert, verliert seine technische Grundlage. Damit neigt sich die Vermarktung von Inhalten wie Musik oder Filmen über materielle Träger ihrem Ende zu. Neue Lösungen werden gefunden. Präsenz beim Konzert ist für Musiker heute von größerem Wert als die gespeicherte Konserve ihrer Musik.

An die Stelle einer Bedeutung im engeren Sinn setzt das Netz neue Orientierungen. Die Funktion von Google bietet hierfür das beste Beispiel. Suchergebnisse werden dort nicht aufgrund einer abstrakten Bedeutung bewertet, sondern nach der Zahl der Links, die auf sie verweisen.

Von einer Architektur der Beteiligung ist die Rede, seit Anwendungen im Netz es Nutzern erlauben, Daten wie Texte, Bilder oder Töne ohne technische Vorkenntnisse online zu stellen. Der Konsument wird zum Produzenten, zum Pro-Sumer.

Wie betrifft das alles die Kunst? Wenn überhaupt, dann lässt sich die Frage nur in zwei Fassungen beantworten. Denn auf der einen Seite gibt es jenen professionellen Betrieb, der sich zwischen Messen und Museen, zwischen Galerien und Großausstellungen entfaltet. Dem steht ein eher naiver Zugang zur Kunst gegenüber. Dort gilt jedes Bild, jedes undefinierte Ding oder Ereignis schon im Zweifelsfall als Kunst, und man sieht gerne mit Beuys in jedem Menschen den Künstler. Nicht dass die Grenze zwischen beiden Bereichen undurchlässig wäre. Aber der Kunstbetrieb operiert mit ebenso subtilen wie effektiven Methoden der Wertbildung und des Ausschlusses, die nicht selten beteiligte Künstler zur Verzweiflung treiben, von Außenstehenden ganz zu schweigen. Wer sich also glücklich schätzt, sein neuestes Ölgemälde online gestellt zu haben, sollte das auf keinen Fall mit dem Eintritt in den Kunstbetrieb im engeren Sinn verwechseln.

Die Entwicklungen im Netz betreffen daher die Kunst doppelt. Die eine, naive Seite, wird ganz davon in Beschlag genommen. Werke können frei reproduziert und verteilt werden. Der Zugang steht jedem offen. Werte bilden sich im freien Fluss der Aufmerksamkeit.

Für die professionelle Seite der Kunst gilt geradewegs das Gegenteil. Der Zutritt wird sehr restriktiv gehandhabt. Die Reproduzierbarkeit bleibt strengstens kontrolliert. Und um die Bedeutung einzelner Werke entfaltet sich ein theoretischer Diskurs, der alles andere als einfach zu verstehen ist. Man könnte nun klagen: Wozu all diese Restriktionen in einem Feld, das so offen sein will wie die Kunst? Aber diese Klage übersieht den simplen Umstand, dass Kunst gerade deshalb etwas Besonderes ist, weil sie sich verschließt und singulär bleibt, weil sie sich einer jahrhundertealten Geschichte bewusst ist und einen reflektierten Blick auf sich selbst und die Welt sucht.

Dennoch hält das Netz auf den verschiedensten Wegen Einzug auch in die geschlossenere Welt des professionellen Kunstbetriebs. Es gibt genügend Künstler, die im und mit dem Internet arbeiten, nicht nur als Netzkünstler im engeren Sinn, sondern auch medienübergreifend. Dazu tritt das Netz als nachrangiges Distributionsmedium für Videos und Bilder, deren Originale in anderer Form vorliegen. Und schließlich dient es zusehends als Plattform, um über Kunst zu kommunizieren.

Gegenüber neuen Technologien hat sich Kunst seit der Moderne immer zwiespältig verhalten, konservativ gegenüber der Reproduzierbarkeit, avantgardistisch im Experiment. Der Frage nach dem Technischen setzt sie so enge Grenzen wie kaum ein anderes kulturelles Feld. Was anderswo als ein Phantasma des Fortschritts gilt, weist sie zurück in seine Grenzen.