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Paradies 2000

18.08.12

Dass es allen in Zukunft besser gehen wird, war eines der großen Versprechen. Die Geschichte hatte sich in einen Motor des Fortschritts verwandelt, angetrieben von den Kräften eines guten Kapitalismus. Alle würden wir an den technischen Errungenschaften partizipieren, wie die Teflon-Pfanne an der Mondlandung. Der Überfluss der Güter würde den letzten Winkel des Globus erreichen. Die Welt ging einer glücklichen Zukunft entgegen. Das künftige Paradies wartete nicht im ewigen Himmelreich, sondern im Jahr 2000.
Wie anders die Lage der Gegenwart. Heute droht der Abstieg und der Verlust elementarer Errungenschaften. Rente und Krankenversorgung werden eingeschränkt, Infrastruktur verfällt. Die Staaten leiden unter einem selbst auferlegten Spardiktat. Das Ungleichgewicht von Einkommen und Vermögen vergrößert sich weltweit.
Wir haben die Zukunft, die uns einst versprochen wurde, nie erreicht. Sie rückt in immer weitere Ferne. Baudrillard hatte recht. Das Jahr 2000 fand nicht statt. Wenn auch nicht aus den Gründen, die er dafür 1990 sah, nämlich den “immensen Kommunikationsnetzen, in denen die Zeit schließlich in reiner Zirkulation aufgeht.”(Bau1990:24) Die Netze haben wir, allein hat sich die Zeit nicht damit zufrieden gegeben, sich im Kreis drehen. Nein, sie hat die Richtung gewechselt.
Dabei schrieben die Versprechen auf das Jahr 2000 nur eine Entwicklung fort. Der Kapitalismus hatte dem Westen seit dem zweiten Weltkrieg einen enormen Aufschwung, der weite Teile er Bevölkerung erreicht. Viele haben neuen Häuser bekommen. Fast alle hatten Autos. Alle hatten Schulbildung, viele konnten Universitäten besuchen. Allgemeine Gesundheitsversorgung und Sozialversicherungen wurde aufgebaut. Die Furcht vor der Not war gebannt.
All das folgte nicht auf einen Zustand des Reichtums. Der Fortschritt wuchs aus der Katastrophe, trotz der Kriege, trotz einer enormen Verschuldung. Es ging nicht mit einem Regime zusätzlichen und verbilligter Arbeit einher. Nein, die Arbeitsbedingungen wurden besser und die Arbeitszeiten kürzer.
Es schien als würde Kapitalismus funktionieren, indem er dafür sorgte, dass Generation auf Generation in immer besseren Verhältnissen leben konnten. Gerade dieses „über die Verhältnisse“ leben, die alten Verhältnisse wieder und wieder umzuwerfen und zu verbessern, hatte alle miteinander voran gebracht.
Die Fortschrittsphantasien erstreckten sich nicht nur auf die westlichen Welt, sondern auch auf die Kolonien oder die Entwicklungsländer, wie sie bald nach der Kolonialzeit in Hoffnung auf eine gute Entwicklung benannt wurden. Wohlergehen, Konsum, Bildung und Fortschritt sollte auf alle Teile der Welt ausgedehnt werden.
Der ungeheuerliche Sprung nach vorn führte dazu, dass sich die Mittelklassen der westlichen Ländern schon im Paradies wähnten. Es gab alles, und jeder konnte es erreichen, oder zumindest berechtigterweise davon träumen.
Aber das Paradies hatte Lücken. Aber sie galten als Probleme, die man beheben würde. Der enorme Rassismus. Der laufende Krieg. Die Geschlechterverhältnisse. Die Herrschaft der alten Säcke, speziell in Deutschland. Das damit verbundene moralische Korsett. Allerlei unsinnige Vorschriften, die zur Vorstellung des Paradieses nicht wirklich passen wollten, von Haarlängen, Bekleidung bis zu tradierten und beengenden gesellschaftlichen Rollen. Das Ende der Arbeit. Über allem die Drohung der nuklearen Vernichtung, der “mutual assured destruction”, wie John von Neumann sie auf der Suche nach dem passenden Kürzel MAD nannte.
Aber beides passt zusammen. Das Paradies im Hier und Jetzt entschädigt uns dafür, dass das Jenseits verloren ist. Wenn das Nachleben nicht mehr als Erlösung verklärt werden kann, weil wir ins Jenseits als verschmorter, radioaktiver Aschebrösel eintreten, können wir das Paradies nur im diesseits wollen.
Wie schwer es fällt, sich an diese Welt zu erinnern, in der alles dem Glück zustrebt, bedroht von der momentanen Zerstörung. Heute dagegen gehen wir der Zerstörung entgegen, ohne dass das Glück zurück gekommen wäre, und sei es nur als Jenseitsphantasie.