text

N.N., o.T.

18.10.06

Schirn-Kunsthalle Frankfurt, Katalog zur Ausstellung Anonym

Das Gesetz des Eigennamens in der Welt der Kunst

N.N., Nomen nominandum. Name zu nennen. Das Kürzel hält einen Platz leer. Noch ist der Name nicht bekannt, der dort eingetragen wird. Auf Dauer aber kann die Stelle nicht leer bleiben. Findet sich niemand, der sie füllt, so wird sie gestrichen. Die Lösung des Odysseus, einen Niemand vorzutäuschen, um als leere Stelle der Höhle des Polyphem zu entkommen, sieht die Abkürzung N.N. nicht vor. Der Name regiert über die Stelle. Denn ohne ihn kann sie nicht bestehen.

o.T., ohne Titel. Auch hier bleibt eine Stelle leer. Es gibt keinen Titel. Aber im Gegensatz zum vorherigen Fall muß sie nicht gestrichen werden. Sie bleibt bestehen, auch wenn kein Name sie füllt. Sie besteht unabhängig von der Nennung des Namens.

Die zwei Platzhalter stehen daher zu den Gegenständen, auf die sie sich beziehen, in einem gegensätzlichen Verhältnis. Mal regiert die Stelle, mal regiert der Name. Im Fall o.T. hindert der fehlende Name sein Objekt – das Kunstwerk– nicht daran zu existieren. Es gibt das Werk, auch wenn es keinen Namen besitzt. Anders dagegen beidem Kürzel N.N.. Namenlose Subjekte gibt es nicht, schon gar nicht unter Autoren und Künstlern. Am nächsten kommt dem Namenlosen der »Anonymus« sowie eine andere Leseweise des Kürzels N.N. als »nomen nescio« – »den Namen weiß ich (noch) nicht«. Letzteres ist die schwächereForm des »Nomen nominandum«, die ebenfalls davon ausgeht, daß es den Namen gibt. Genauso wie der »Anonymus«, der einen Namen besitzt, ihn nur nicht nennen will.

Man denke sich die Verhältnisse umgekehrt. Die Buchstaben N.N. würden in einer Ausstellungsliste auf eine Person verweisen, die zwar existiert, aber eben ohne Namen. Nicht weil sie die Nennung ihres Namens verweigert, sondern weil sie eben zu jenen Menschen gehört, die noch nie einen Namen besessen haben. Umgekehrt dürfte es im Fall o.T. ein Werk ohne Titel nicht geben. Der mit dem Kürzel o.T. markierte Platz an der Wand müßte leer bleiben, wenn für ihn kein Name gefunden wird.

Namen sind Metadaten. Sie versehen Objekte mit zusätzlichen Informationen. Man findet Metadaten bei Dateien, wo sie Namen, Länge, Zeit und oft eine ganze Reihe weiterer Angaben enthalten , aber auch bei Waren oder Menschen.1 Kunst besitzt ganz offensichtlich ein festes Format für Metadaten. Sie sind in der Regel sind auf einem kleinen Schildchen notiert, das sichneben dem Werk an der Wand befindet. Es nennt den Namen des Künstlers, den Titel des Werks, dessen Entstehungszeit, manchmal kommen Größe, Material, Medium, Dauer, Anschaffungsdatum, Leihgeber und weitere Informationen hinzu. Metadaten können ihr Format im Lauf der Zeit ändern. Am Beispiel von Büchern hat der Literaturwissenschaftler Gérard Genette untersucht, wie Paratexte – darunter versteht er alle Arten vonText um den eigentlichen Buchtext herum – variiert werden. »Wege und Mittel des Paratextes verändern sich ständig, je nach den Epochen, den Kulturen, den Autoren, den Werken und den Ausgaben ein und desselben Werkes, und zwar mit bisweilen beträchtlichen Schwankungen.«2 Die Gründe, warum manche Angaben mal genannt werden, während man sie bei anderer Gelegenheit verschweigt, betrachtet Genette nicht ausführlicher.
Metadaten sind keine Ornamente. Sie stehen nicht grundlos an ihrer Stelle, und ihre Stelle wird nicht ohne Zweck freigehalten. Metadaten richten sich an Instanzen jenseits des Objekts. Umgekehrt geben Institutionen jenseits des Künstlers und jenseits des Werkes vor, welche Daten obligatorisch und welche optional anzugeben sind. Sie setzen ein Gefüge von historisch gewachsenen Konventionen in Kraft, dessen Regeln und Zwänge schon so eingespielt sind, daß sie als solche kaum mehr auffallen. Die Metadaten spiegeln Ordnungen wider, denen ein Objekt zugewiesen wird; Reihen, in die man es eingliedert; Rechtsverhältnisse, denen es unterworfen ist; Funktionen, die es zu erfüllen hat. Sie sind damit Teil eines Prozesses, den Michel Foucault in seiner Funktion zur Kontrolle eines Diskurses beschrieben hat. »Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird.«3 Hinter den Metadaten stehen Machtverhältnisse. Nirgends äußert sich das deutlicher als an Staatsgrenzen, wo Menschen ihre im Paß genannten Metadaten vorweisen müssen, um passieren zu dürfen.

Daß die Regeln der Kunst es vorsehen, den Namen des Künstlers zu nennen, hat eine Geschichte, die mit der Entstehung des Künstlerberufs zusammenfällt. Denn ihr Anfang liegt an einer historischen Schwelle, die zugleich mit der obligatorischen Nennung des Namens auch die Berufsbezeichnung „Künstler“ überhaupteinführt. Im 14. Jahrhundert betrachtete man weder Malerei noch Bildhauerei als eine Kunst. Freie Künste, die sieben Artes liberales, wurden an der Artistenfakultät der Universitäten gelehrt. Wer sich in Fächern wie Rhetorik, Grammatik, Arithmetik oder auch Musik fortgeschrittene Kenntnisse im Sprechen, Lesen und Rechnen erwarb, wurde für die höheren Studienfächer zugelassen. Den entscheidenden Umstand, der die Künste für viele Berufsgruppen attraktiv machte, bennent nicht der Begriff »Kunst«, sondern das Attribut »frei«. Frei hießen die Fächer, weil ihre Absolventen nicht gezwungen waren, sich den Zünften anzuschließen. Sie entkamen den restriktiven Gewerbeordnungen und Tarifen der städtisch organisierten Handwerkervereinigungen. .4 Zwischen 1400 und 1500 traten Maler und Bildhauer unter der selbstgewählten Bezeichnung »Künstler« in einen liberalisierten Markt ein, der zwar keinerlei kollektive Absicherungen mehr kannte, es aber jedem einzelnen erlaubte, für einzigartige Werke ebenso einzigartige Preise zufordern.

Im Zuge dieser kleinen neoliberalen Reform bekommt mit dem Beruf des Künstlers auch sein Eigenname mehr Gewicht, da sich in der neuen und prekären Freiheit nun jeder einzelne der liberalisierten Artisten selbst zu vermarkten hat. Aber das allein genügt nicht, um dem Namen des Künstlers die Bedeutung zu verleihen, die er bis in die Gegenwart behalten hat. Denn auch das vermeintlich dunkle Mittelalter nennt die Eigennamen vonBildhauern und Freskenmalern. Doch stehen deren Namen isoliert. Sie finden keinen Weg ins Leben. So lange das Metadatum »Name« nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet ist, bleibt seine Wirkung begrenzt.
Ein Abendessen im Jahr 1546 leitete in der Geschichte der Künstlernamen eine neue Epoche ein. Der Maler Giorgio Vasari war beim Kardinal Farnese angestellt, um den Palazzo della Cancelleria in Rom auszumalen. Wärhend eines gemeinsamen Nachtmahls kam der Kardinal auf die Idee, man könne, ähnlich wie die Lebensgeschichten berühmter Männer der Antike auch die der zeitgenössischen Künstler aufschreiben. Vier Jahre benötigt Vasari, um den Auftrag auszuführen. 1550 erscheint die erste Ausgabe der Buches »Le Vite de’ più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani da Cimabue insino a tempi nostri« (Die Lebensbeschreibungen der ausgezeichnetsten Architekten, Maler und Bildhauer von Cimabue bis zu unserer Zeit). Der Name des Künstler tritt damit in eine neue Ordnung ein. Er ist nicht länger nur Markenbezeichnung von Gemälden, sondern erhält durch das erzählte Leben einen Ort in der Geschichte. Denn die Biographie verzeichnet viel mehr als nur ein privates Schicksal. Sie bettet den Namen vom Datum der Geburt bis zum Tod zusammenmit derReihe der ihm zugeschriebenen Werke in einen historischen Zusammenhang ein.
Seither können Namen als fundamentale historische Einheit in einer Kunstgeschichte eingesetzt werden, die Werke nach Einflußlinien, Abfolgeund Stil sortiert.

Manmag einwenden, die Rolle des Namens seiselbstverständlich, denn schließlich hat ein und dieselbe Person die Werke hergestellt. A, aber das Argument geht vom Faktum des Namens aus, um seine Bedeutung zu begründen. Esführt im Kreis herum. Wüssten wir nicht, wem ein Werk zugeschrieben wird, könnten wir nicht nur seinenRuhm als Erzeuger nicht würdigen, sondern würden vielleicht nicht einmal auf Idee kommen, dass es ihn als identifizierbare Person geben muß.
Daß die Figur des Autors nicht eine evidente Notwendigkeit darstellt, sondern eine Reihe von Funktionen erfüllt, hat niemand deutlicher erkannt als Michel Foucault. Er betrachtet »den Autor als Prinzip der Gruppierung von Diskursen, als Einheit und Ursprung ihrer Bedeutungen, als Mittelpunkt ihres Zusammenhalts«.5 Die Figur des Autors erfüllt Funktionen diskursiver Kontrolle. Seinen Namen zu nennen ist alles andere als notwendig. »Vielmehr gibt es um uns herum genügend Diskurse, die in Umlauf sind, ohne ihren Sinn oder ihre Wirksamkeit einem Autor zu verdanken: banale Aussagen, die alsbald verschwinden, Beschlüsse oder Verträge, die einen Unterzeichner brauchen, aber keinen Autor; technische Anweisungen, die anonym weitergegeben werden.«6 Foucaults Aufzählung läßt sich um weitere Beispiele aus dem Bereich der Kultur ergänzen. So zeigt etwa die Frühgeschichte des Films, wie unterschiedliche Produktionsverfahren zur Nennung verschiedener Namen führen. Anfangs steht beim Verkauf der Filmrollen der Kameramann im Vordergrund, doch nur die Kinobesitzer kennen seinen Namen. Für das Publikum genügt als Titel die Handlung der kurzen Filme. Um 1900 versuchen einzelne Produktionsfirmen ihren eigenen Stil zu prägen und vermarkten zu diesem Zweck den Firmennamen. Ab 1905 gewinnen Funktion und Name des Regisseurs größere Bedeutung. Als dann dank der Großaufnahmen der Schauspieler zum Star wird, steht bald nur noch dessen Name auf den Plakaten.7 Im Namen kreuzt sich die Macht der Produktion mit der Aufmerksamkeit des Publikums. Ein anderes Beispiel der jüngeren Gegenwart sind Computerspiele, bei denen vor allem Titel und Hersteller genannt werden, eine dem Regisseur vergleichbare Autoren-Position aber weitgehend unbekannt ist.

Man mag einwenden, daß es bei Kunstwerken den Autor tatsächlich gibt, daßer die Dinge erfindet und manchmal auch herstellt. Aber ergibt sich daraus dieNotwendigkeit, Namen zu nennen? Und umgekehrt: Kannes die Funktion des Autors überhaupt geben, wenn wir seinen Namen nicht nennen und nicht kennen? Entsteht er zusammen mit seinem Namen erstals Funktion, die ihm die Macht über ein Werk nachträglich zuspricht?
»Der Autor ist keine unendliche Quelle von Bedeutungen, die das Werk erfüllen, der Autor geht dem Werk nicht voraus. Es ist ein bestimmtes funktionelles Prinzip, durch das man in unserer Kultur begrenzt, ausschließt, auswählt, selegiert.«8 Foucault unterscheidet vier Orte, an denen Autorschaft konstruiert wird: im Namen, der mehr ist als ein gewöhnlicher Eigenname; im Aneignungsverhältnis, das ein Werk als seines bestimmt; in der Zuschreibung, die ihm Texte zuweist; in der Position, die ihm bestimmte Aussagen zubilligt.9 Bei seiner Untersuchung bezieht sich Foucault auf die Debatte um die Eigennamen, denen die Sprachphilosophie große Aufmerksamkeit gewidmet hat. Denn wenn man davon ausgeht, daß Philosophie sich vorrangig dem Verhältnis von Sprechen und Handeln oder Wörtern und Dingen widmet, erhält jener besondere Fall, in dem genau ein Ausdruck sich auf ein einzelnes Objekt bezieht, einefundamentale Bedeutung.
Foucault beruft sich auf die Annahme, daß ein Eigenname sich als Bündel von Beschreibungen begreifen läßt. Im Fall des Autorennamens erweist sich diese These als wenig hilfreich. Denn sie zieht die besonderen Umstände, die die Nennung des Namens verlangen, nicht in Betracht. Im selben Jahr, in dem Foucault den Vortrag »Was ist ein Autor?« in Buffalo hält, schlägt der Philosoph Saul Kripke in Princeton eine andere Lösung für das Problem des Eigennamens vor. Anstelle der Bündel-Annahme formuliert er die These, »daß Namen starre Bezeichnungsausdrücke sind«.10 Das bedeutet, daß ein Name »in jeder möglichen Welt denselben Gegenstand bezeichnet«.11 Kripke kommt damit Foucault entgegen. Denn, denn das Konzept einer Bedeutung, die sich über verschiedene mögliche Welten erstreckt, erlaubt es, den Namen des Autors als besonderen Fall zu betrachten. »Eine mögliche Welt ist gegeben durch die deskriptiven Bedingungen, die wir mit ihr verbinden«,12 führt Kripke aus. Damit bringt er den Namen mit den Bedingungen seiner Nennung in Verbindung. Der Name des Autors wird zum Sonderfall in einer Welt, die ihn als diskursive Ordnung in Kraft setzt.

Im Dienst der Autorfunktionen verfolgen die Biographen der Künstler von Anfang an strategische Ziele. Um die Zuordnung von Werk und Name als eine Ausschließliche zu gestalten, werden andere Zusammenhänge geschwächt. Das Leben des Künstlers wird als ebenso singulär stilisiert wie sein Werk. Ernst Kris und Otto Kurz haben ihrer Studie über »Die Legende vom Künstler« gezeigt, wie sich einzelne Motive der Exklusivität zu einer biographischen Form gruppieren. Modellhaft gibt das ihre Kurzform der Entdeckung des Giotto wieder: »1. Cimabue ist zum Lehrer des Giotto geworden. 2. ein Zufall führt die Beziehung beider herbei. 3. dieser Zufall eröffnet dem Hirtenjungen Giotto den sozialen Aufstieg. 4. schon im Knaben Giotto drängt eine wundersame Begabung, die sich in seinen Tierzeichnungen verrät, nach künstlerischem Ausdruck.« 13Die Figur des Hirtenjungen lesen sie als mythisches Motiv, das den Weg zur Göttlichkeit des Genies bereitet. Die Lehre fördert nichts weiter als das Talent eines Genies zutage, das zufällig entdeckt wird, aber schon immer angelegt war. Die Karriere des Künstlers läßt sich durch Ausbildung, Anpassung und Sozialisation nicht erklären. Sie ist gottgewollt.
Die rhetorischen Formeln der Künstler-Biographik hinterlassen bis heute ihre Spuren. Kritik und Kommentare zu Kunst und Künstlern gehorchen anderen diskursiven Regeln als vergleichbare Aussagen über sonstige kreative Produkte, etwa aus den Bereichen Design oder Werbung. Kunst wird gerne als unhintergehbarer Ausdruck eines Autors gelesen und nicht etwa als eine am Bedarf von Markt oder Museen orientierte Dienstleistung. Künstler-Karrieren feiert man lieber als Faktum, anstatt sie als Resultat einer geschickten Strategie im Kunstbetrieb darzustellen. Das einzelne Werk wird eher nach seiner Bedeutung befragt als daraufhin, ob andere Lösungen besser gewesen wären. Die diskursiven Regeln des Betriebs umgeben den Namen und die ihm zugeschriebenen Produkte, ganz wie es Kris und Kurz schon für die Biographik der Renaissance gezeigt haben, mit einer Zone rhetorischer Immunität.

Nicht nur das Muster der Biographie, auch die Funktionen des Namens haben sich nicht wesentlich geändert.Denn es gibt es zwei Instanzen, die gleich mächtig den Namen des Künstlers einfordern: der Markt und die Museen. Dem Museum dient der Name als Verbindung zwischen der Menge der Werke und der historischen Ordnung, die sie nach dem Vorbild der Winckelmann’schen Kunstgeschichte um 1800 einführten..14 Weder Moderne noch Postmoderne haben die Macht des Historischen über die Kunst gebrochen. Buchstäblich im Gegenteil: Denn die Moderne propagiert im Wortsinn das laufend Neue einer fortschreitenden Gegenwart und die Vorsilbe »Post« bestätigt nur die Bewegung einer zeitlichen Folge. So läßt sich gerade auch die Avantgarde als Strategie lesen, die nichts anderes will, als jenes immer Neue hervorbringen, nach dem die Institutionen der Kunst verlangen. Daß die Moderne sich einer auf historische Abfolgen fixierten Datenverarbeitung andient, wird gerne unterschlagen, denn es würde den Mythos der Autorenschaft zur bloßen Anpassungsleistung herabsetzen.
Dem Markt dient der Name als Markenbezeichnung. Preise bilden sich für Namen. Im Namen des Künstlers zeigen sich dieselben Strategien des Branding, die auchdie Warenwelt der Gegenwart kennzeichnen und zwar ungefähr seit 1880, zeitgleich zu den Anfängen der Moderne auf.15 Besonders deutlich äußert sich der Vorrang der Autorennamens darin, daß Sammler neue Werke berühmter Künstler unbesehen undim Voraus ordern. Um welche Art von Werk es sich im Detail handelt, bleibt sich gleich, denn sein Marktwert hängt weit mehr am Namen als an irgendeiner anderen Eigenschaft.

In der Epoche der scholastischen Philosophie galt als Realist, wer der Annahme anhing, daß Begriffe mehr Wirklichkeit besitzen als die Dinge, die sie bezeichnen. Im Sinn dieses Realismus, der gerade das Gegenteil von dem meint, was wir heute unter Realismus verstehen, geht die Funktion des Namens dem Werk und Leben des Künstlers voraus. Die Formulierung »sich einen Namen machen«, spricht diese Wahrheit aus. Denn der Allerwelts-Name muß erst in die Kunst übertragen werden, um dort als Autorenname wirksam zu sein. Seine Macht äußert sich unmittelbar und praktisch. Erst unter dem neuen Namen werden der Person all jene Funktionen zugebilligt, die die Welt der Kunst für den Künstler vorsieht.
Die beiden Kürzel o.T. und N.N. sagen nicht nur etwas über das Verhältnis von Stellen und Namen aus. Sie bezeichnen auch die Macht, die hinter diesem Verhältnis steht. Denn »ohne Titel« gibt nichts weiter als einen Mangel an. Die Stelle »Titel« wird als Metadatum der musealen Datenverarbeitung standardmäßig aufgerufen, aber es hat keine Folgen, wenn sie leer bleibt.
»Nomen nominandum« hingegen enthält eine im lateinischen Gerundivum[sic!] versteckte Befehlsform. Der Name ist zu nennen! Wer ihn nicht nennt, verstößt gegen ein Gesetz.

____________________

1 Vgl. Lev Manovich: Die »Metadatierung« des Bildes. Metadata.mon amour. In:ders.:: Black Box – White Cube, Berlin 2004, S.29-51
2 Gérard Genette: Paratexte. Das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt a. M. 1989, S. 11.
3 Michel Foucault: Die Ordnung des Diskurses. München 1974, S. 7.
4 Vgl. Martin Warnke: Hofkünstler: Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. 2.,überabr. Aufl. Köln1996. S.16-28
5 Foucault 1974 (siehe Anm. 3), S. 19.
6 Ebd.
7 Vgl. Janet Staiger: The Hollywood mode of production to 1930. In: David Bordwell, Thompson Staiger (eds.): The Classcial Hollywood Cinema. Film Style & Mode of Production to 1960. New York 1985, S.85–153., hier S. 85 ff.
8 Michel Foucault: Was ist ein Autor? [Vortrag]. In: Schriften. Bd 1. S. 1003–1041 , Frankfurt a. M. 2001,hier S. 1030.
9 ebd. S. 1004
10 Saul A. Kripke: Name und Notwendigkeit. Frankfurt a. M. 1981S. 59.
11 ebd.
12 aaO., S. 54
13 Ernst Kris/Otto Kurz: Die Legende vom Künstler. Ein geschichtlicher Versuch. Frankfurt 1980, S.50
14 Vgl. Stefan Heidenreich: Was verspricht die Kunst? Berlin 1998, S. 53 f.
15 Vgl. Naomi Klein: No Logo, New York 2000, S. 6.